Handschriftentitel:

Entstehungsort:

Entstehungszeit:

Frühere Signatur(en):

• D..I.5
• Cambrai: Saint Sepulcre: 321

Beschreibstoff:

Das Pergament zeugt von einer hochwertigen Verarbeitung: dünn, rein und glatt; an manchen Stellen allerdings durchgerieben (z.B.: Bl. 144 u. 148). Jeweils drei Blätter aus Papier dienen vorne (Bl. A-C) wie hinten (Bl. A'-C') zum Schutz. Ein Wasserzeichen weist diese Blätter als ein Produkt der Firma "Canson & Mont[golfier]" aus, die unter diesem Namen seit dem frühen 19. Jh. firmiert. Der Codex ist also frühestens in dieser Zeit vollständig restauriert worden. Mit einem weiteren, sehr viel älteren Blatt Papier setzt die moderne Blattzählung ein.

Die Punktierung der Blätter zur Linienziehung ist – bis auf die von Bl. 139 – durchweg gekappt.

Umfang:

Foliierung:

Lagenstruktur:

Der Codex setzt sich größtenteils aus Lagen mit jeweils zwölf Blättern zusammen. Die sechs Lagen, über die sich der Text der Liturgieerklärung Ruperts von Deutz erstreckt (Nr. 4-9: Bl. 28-99), sind auf der jeweils letzten Seite unten durchnumeriert. Es finden sich weder Kustoden noch Reklamanten.

• Vorsatz (Bl. A-C)
• 1. I+1 (Bl. 1-3)
• 2. VI (Bl. 4-15)
• 3. VI (Bl. 16-27)
• 4. VI (Bl. 28-39)
• 5. VI (Bl. 40-51)
• 6. VI (Bl. 52-63)
• 7. VI (Bl. 64-75)
• 8. VI (Bl. 76-87)
• 9. VI (Bl. 88-99)
• 10. I (Bl. 100-101)
• 11. VI (Bl. 102-113)
• 12. VI (Bl. 114-125)
• 13. VI (Bl. 126-137)
• 14. VI+1 (Bl. 138-150)
• 15. II (Bl. 150-154)
• 16. I (Bl. 155-156)
• 17. IV (Bl. 157-164)
• 18. VII (Bl. 165-178)
• 19. VI+1 (Bl. 179-191)
• 20. VI (Bl. 192-193bis)
• 21. VI (Bl. 194bis-205)
• 22. VI (Bl. 206-217)
• 23. VI (Bl. 218-229)
• 24. VI (Bl. 230-241)
• 25. VI-1 (Bl. 242-252)
• 26. VI (Bl. 253-264)
• 27. VI (Bl. 265-276)
• 28. VI (Bl. 277-288)
• 29. VI (Bl. 289-300)
• 30. VI (Bl. 301-312)
• 31. I (Bl. 313-314)
• Nachsatz (Bl. A'-C')

Zustand:

Der Codex befindet sich in einem sehr guten Zustand und weist verhältnismäßig wenige Gebrauchspuren auf (vgl. u.). Auf Bl. 138v Spuren von Vogelkot.

Seiteneinrichtung:

Der Text beginnt – wie im 13. Jh. üblich – auf jeder Seite stets unter der ersten Linie.

Schrift und Hände:

• Die gleichmäßig und sehr ordentlich ausgeführte Textualis libraria läßt sich in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datieren. Die Tinte der Texte changiert farblich zwischen dunkelbraun und schwarz. Unterschiedliche Schreiberhände lassen sich nicht ausmachen.
• Eine Hand aus dem 15. Jh. versah die Vorderseite in einer Cursiva currens mit einem (unvollständigen) Inhaltsverzeichnis: Continetur hoc volumine.
• An den Seitenrändern finden sich häufig dünne Bleistiftmarkierungen und Nota-Kürzel, bei denen die beiden Schäfte des Buchstabens n zuweilen über mehrer Zeilen nach unten in die Länge gezogen sind – der erste in Schlangenlinie, der zweite gerade und am Ende nach innen ausschwingend (z.B.: Bl. 143r). Sie scheinen nicht viel jünger als die Abschrift selber zu sein, mit Sicherheit datieren sie vor der Neubindung, da auch sie z.T. gekappt sind oder sich im Falz befinden (z.B.: Bl. 224v). Als weitere winzige Vermerkzeichen begegnen drei schwarze Punkte, die ein Dreieck bilden, und ein senkrechter Strich darunter (z.B.: Bl. 143r). Kaum mehr lesbare Marginalien, da fast verblichen und gekappt, sind auf den Blättern 221r (außen) und 189bisr (oben) zu finden.

Auszeichnungsschriften / Buchschmuck:

• Zahlreiche bunte Vogelzeichnungen illustrieren das Aviarium des Hugo von Folieto (Bl. 192-193bis) und zeugen von hoher Kunstfertikeit.
• Drei Initialen – zwei zu Anselms Traktat "Cur deus homo" (Bl. 170r u. Bl. 186r) und eine weitere zum Vogelbuch des Hugo von Fouilloy (Bl. 192v) – stehen stilistisch offensichtlich unter englischem Einfluß und lassen Ort und Zeit der Herstellung des Manuskripts auf Frankreichs Norden, die Normandie und die Ile-de-France im zweiten Viertel des 13. Jh.s eingrenzen (vgl. oben). Für diese Vermutung spricht auch die Art des Rankenwerks, das die Initialen der anderen Texte ziert (vgl. Stirnemann 1990; Cordonnier 2005, 105).
• Alle anderen Initialen der Initien bestehen zumeist aus einem roten und einem blauen Teil, an denen sich in der jeweils anderen Farbe filigrane Verzierungen ranken. Kapitel-Initialen werden im Wechsel rot und blau ausgeführt und mit blauen bzw. roten Filigranen verziert. Im Falz, selten auch am äußeren Seitenrand (Bl. 137r), findet man zuweilen winzige Repräsentanten (litterae stantes), die dem Illuminator die jeweils zu zeichnende Initiale anzeigten.
• Kapitelüberschriften sind teils als Rubriken in den Textkörper integriert, teils als Marginalie neben die Kolumne geschrieben.
• Als weitere sichtbare Unterteilung des Textverlaufs werden kleinere Sinnabschnitte durch Strichelung der jeweils ersten Buchstaben gekennzeichnet, die häufig mit knappen roten Randvermerken korrespondieren: questi o , soluti o , ia , ija , iija etc. Zitate aus dem Meßkanon wurden mit kleinen Schlangenlinien am Zeilenrand rubriziert.
• Durch Neuschnitt des Buchblocks sind Zählungen oder Numerierungen einer ehemaligen Kopftitelzeile weitestgehend verlorengegangen. Reste davon kann man jedoch vereinzelt noch sehen (Bl. 142r, 168r, 177v, 178r, 195v, 221v). Die Schäfte der ersten und die Abschwünge der untersten Zeile sind bei manchen Texten bis in den Seitenrand hinein verlängert und z.T. ebenfalls durch Neuschnitt gekappt.

Einband:

Der Einband aus braunem Kalbsleder wird in das 16. Jh. datiert und scheint erst durch das regere Interesse der modernen Forschung etwas in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Auf dem Buchrücken zeichnen sich zwei Bünde und die beiden Kapitale ab.

Entstehung der Handschrift:

Äußere Merkmale von Schrift und Verzierung lassen eine Entstehung in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Frankreichs Norden, der Normandie oder der Ile-de-France vermuten. Die Auswahl der einzelnen Texte zeigt eine geistige Nähe zur Pariser Klosterschule von Sankt Viktor.

Auf der Rückseite von Bl. 2 befindet sich eine alte Signatur, die sich bisher jedoch keiner bestimmten Bibliothek zuweisen ließ: "D..I.5" oder "D..I.h.". Douteil, der Herausgeber der Liturgieerklärung des Johannes Beleth, vermutet, der Codex könne ursprünglich für ein Kloster in Noyon – möglicherweise die Abtei Saint-Eloi – angefertigt worden sein, da nur die Cambrai-Handschrift ein Kapitel mit der Vita des hl. Eligius, Bischofs von Noyon, überliefert. Zu denken wäre an das Zisterzienserkloster Notre-Dame von Ourscamp (Oise). Es liegt etwa 5 km von Noyon entfernt und wurde 1129 auf dem Terrain eines dem Hl. Eligius geweihten Oratoriums gegründet. 1358 wurde es in Brand gesetzt und geplündert, 1370 besetzt.

Provenienz der Handschrift:

Im 14. Jh. befindet sich der Codex dann in dem Besitz eines Franziskanerhauses in der Nähe von Noyon. Ein entsprechender Vermerk aus dieser Zeit auf dem Recto von Bl. 3 wurde zwar später ausradiert, läßt sich jedoch mit Infrarot immer noch einigermaßen entziffern: Iste liber est domus montis sancti Ludovici prope nouidunum, ordinis sancti Frans[isci] – "Dieses Buch gehört zum Bestand des Franziskanerhauses Mont-Saint-Louis nahe bei Noyon" (vgl. Molinier 1891, 90, der wie alle, die sich auf seine Angaben beziehen, "montis", also einen ganzen Berg verschluckt: Iste liber est domus sancti Ludovici ...). Ein Franziskanerkloster in der Nähe von Noyon wurde zwar schon vor 1230 gegründet, König Ludwig IX. jedoch erst 1297 heilig gesprochen. Das Haus kann folglich nicht ihm geweiht worden sein, wenn die Franziskaner auch nach seinem Tod im Jahre 1270 und dem Abschluß seines Kanonisierungsprozesses stark an der Verbreitung seiner Verehrung als Heiliger beteiligt waren. Aber auch für diese Zeit ist kein ihm geweihtes, von Franziskanern geführtes Haus in der Nähe von Noyon bezeugt. Erst im Jahre 1623 gründen Kapuziner in einem Vorort von Noyon nahe Tarlefesse einen Konvent, der dem hl. Ludwig geweiht wird.

Das Haus dürfte sich wohl eher mit einer Kartause Mont-Saint-Louis oder Mont-Renaud identifizieren lassen, die im Jahre 1300 von Reginald de Roye und seiner Frau Agnes an einem Ort in der Nähe von Noyon gegründet wurde, der ehedem Mons de Hairimonte genannt wurde. Das Gebäude brannte im Jahre 1404 nieder.

Ein Codex aus der Bibliothèque Municipale von Charleville (Ms. 273) und ein anderer Codex aus dem Fitzwilliam Museum in Cambridge (Ms. 13) scheinen einst ebenfalls zum Bibliotheksbestand dieses Hauses gehört zu haben, denn sie weisen Besitzervermerke auf, die fast identisch sind, sich allerdings den Ortsnamen und die Ordenszuweisung betreffend, in zwei nicht unwesentlichen Punkten unterscheiden. Im Codex aus Charleville lautet auf Bl. 157bis ein später durchgestrichener Besitzervermerk: Jste liber est dom us montis sancti ludouici prope nouionum ordinis {?} cartusiensis . Im Codex aus Cambridge auf Bl. 7 dagegen: "Iste liber est domus montis sancti ludouici prope nouiomum ordinis cartusiani". Ebendort befindet sich auch eine ältere Signatur: "E. 8. h.", die der genannten älteren Signatur des Codex aus Cambrai zu ähneln scheint. Erwähnt sei darüberhinaus ein Codex der École des Beaux-Arts zu Paris aus dem 14. Jh. (Coll. Masson 76), auf dessen Bl. 1r oben in einer Kursive des 17. Jh.s der folgende Vermerk zu lesen ist: "Fuit Monasterii Celle S. Ludovici in urbe Nouionensi ordinis Carthusiensis". Ein älterer Besitzervermerk auf derselben Seite unten wurde leider abgeschnitten. Der Codex vereint u.a. die Viten von Personen, die bei der Entstehung des Kartäuserordens eine maßgebliche Rolle gespielt haben, und eine kurze "Chronica de origine ordinis cartusiensis".

Um 1600 gelangt der Codex in den Besitz von Pierre Preudhomme, der 53 Jahre lang als Kanoniker an der Kathedrale von Cambrai amtierte. Sein Namenszug auf Bl. 2r unten links weist den Codex dem Bestand seiner Bibliothek zu. Zahlreiche alte Handschriften aus den Bibliotheken sich auflösender Klöster, darunter einige aus dem genannten Zisterzienserkloster von Ourscamp, konnte er zu einer ansehnlichen Sammlung vereinen, die nach seinem Tod am 23. Juni 1628 in der Bibliothek des Domkapitels von Cambrai aufging. Hier erhielt der Codex, wie auf Bl. 2r oben vermerkt wurde, die Signatur "321". Nachdem die Bibliothek des Domkapitels im Verlauf der französichen Revolution in städtischen Besitz übergegangen war, macht ihr Handschriftenbestand heute einen bedeutsamen Teil des Archivbestandes der Médiatèque Municipal von Cambrai aus. In einer Bleistift-Notiz des städtischen Bibliothekars auf Bl. 1 unten ist die unmittelbare Herkunft der Handschrift vermerkt: "Camb. SS" – die ehemalige Abtei Saint-Sépulcre, heute Kathedrale von Cambrai.