Autor und Werk
I. Wilhelm von Auxerre ↑
1. Leben ↑
Wilhelm von Auxerre 1 wirkte im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts in Paris als Magister der Theologie. Er stammte wahrscheinlich aus Auxerre und starb vermutlich im Herbst 1231 in Rom 2 , wohin er sich anläßlich der Universitätsunruhen vom Frühjahr 1229 begeben hatte. Da er die Strapazen dieser seiner letzten Romreise wohl kaum als alter Greis auf sich genommen hat, gilt ein Geburtstermin vor 1160 als unwahrscheinlich.
Die Universität zu Paris war Anfang des 13. Jahrhunderts im Entstehen begriffen, und Wilhelm von Auxerre war auf unterschiedliche Weise in die Geschehnisse involviert: Der Beginn seiner Lehrtätigkeit an der Universität zu Paris läßt sich nicht genau datieren. Mit Sicherheit hatte er einen theologischen Lehrstuhl als magister regens seit dem Jahr 1228. Doch dozierte er dort zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre. Vermutlich hatte er persönlichen Kontakt zum ersten Kanzler der Pariser Universität, Praepositin von Cremona, der dieses Amt in den Jahren 1206-1209 ausführte und wenig später verstarb 3 . Eine Chronik aus dem 16. Jahrhundert zählt ihn bereits für das Jahr 1189 zu den großen Gelehrten jener Zeit 4 . Zeitgenossen schätzten ihn als einen außergewöhnlich begnadeten Disputanten 5 . Nach dem Urteil von Marie-Dominique Chenu war er unter den Studenten seiner Zeit "le maitre le plus en vogue" an der Pariser Universität 6 . Verschiedene Urkunden zeugen von seiner 'wissenschaftspolitischen' Tätigkeit:
(1.) Im Herbst des Jahres 1229 eskalierte der schon lange schwelende Konflikt zwischen der Pariser Bürgerschaft und den ansässigen Studenten 7 : Die Auseinandersetzung mit einem Gastwirt am Karnevalsdienstag gab den Anlaß für das brutale Eingreifen königlicher Sicherheitskräfte gegen eine Gruppe von Studenten, wobei einige von diesen getötet wurden. Dies führte wiederum zu schweren Protesten, die in einem auf sechs Jahre angesetzten Lehrstreik der sich mit den Studenten solidarisierenden Professoren gipfelten. Viele Professoren verließen daraufhin die Stadt, ein Großteil in Richtung Angers oder Oxford. Als Gesandter des französischen Königs reiste Wilhelm von Auxerre zu Papst Gregor IX. nach Rom, um eine Lösung des Konfliktes herbeizuführen. In der päpstlichen Bulle Parens scientiarum vom 13. April 1231, in der Gregor der Pariser Universität mit dem Korporationsrecht weitreichende Befugnisse zur Selbstverwaltung einräumt, firmiert Wilhelm von Auxerre namentlich als Prokurator 8 . Die Bulle avancierte zu den Gründungsstatuten der Universität zu Paris.
(2.) In den Jahren 1210 und 1215 hatte Papst Innozenz III. auf sehr umstrittene Weise die naturphilosophischen Schriften und die Metaphysik des Aristoteles sowie deren Kommentare für den Gebrauch im Lehrbetrieb verboten. Sein Nachfolger Papst Gregor IX. dagegen war zu Zugeständnissen bereit und beauftragte, ebenfalls im April 1231, Wilhelm von Auxerre damit, zusammen mit Simon von Authie und Stephan von Provins die in Frage stehenden aristotelischen Schriften von 'häretischen' Passagen zu reinigen. Die Revision schien jedoch kaum realisierbar und wurde mit dem Tod Wilhelms noch im Herbst desselben Jahres ganz aufgegeben 9 .
(3.) Das letzte Lebenszeichen ist seine Erwähnung in einem Schreiben von Papst Gregor IX. an den französischen König Ludwig IX., den Heiligen, das auf den 6. Mai 1231 datiert und in dem der Papst offensichtlich bemüht ist, Wilhelms beschädigtes Ansehen bei Hofe wiederherzustellen 10 . Als offizieller Interessensvertreter des Königs hatte er bei den Verhandlungen an der Kurie in Rom die vom König an ihn geknüpften Erwartungen nicht erfüllt.
(4.) Weit mehr als zwei Jahrhunderte hindurch gedenkt die Pariser Universität Wilhelms von Auxerre jährlich in der Vigil vor Allerseelen 11 . Der 3. November wird aus diesem Grund als ein möglicher Todestag genannt. Die Tatsache, daß noch im Jahr 1452 ein Teil einer Spende für ein mehrjähriges Meßstipendium zum Gedächtnis Wilhelms von Auxerre genutzt wird und daß der andere Teil dieser Spende demselben Zweck zum Jahresgedächtnis für den altehrwürdigen Begründer der Sorbonne, Robert von Sorbonne, zugeführt wird, kann als ein Hinweis darauf gewertet werden, daß auch Wilhelm von Auxerre eine große Bedeutung in bezug auf die Universitätsgründung zu Paris zugesprochen wurde 12 .
In seinen letzten Lebensjahren trug Wilhelm von Auxerre den Titel des Archidiakons von Beauvais 13 .
2. Werk ↑
Wilhelm von Auxerre gilt als gesicherter Autor dreier überlieferter Werke: einer liturgischen Summe, einer theologischen Summe und eines Glossenkommentars zum Anticlaudian des Alanus von Lille 14 :
(1.) Der Glossenkommentar zum Anticlaudian des Alanus von Lille (ca. 1120-1202) ist in nur einer einzigen Handschrift überliefert und liegt bis heute in keiner Edition vor. Die Handschrift befindet sich in der französischen Nationalbibliothek und weist Wilhelm von Auxerre als den Autor des Kommentars aus 15 . Der Anticlaudian, das enzyklopädisch-allegorische Epos über die Jenseitsreise der personifizierten Klugheit und die Erschaffung des neuen Menschen, galt schon unter den Zeitgenossen des Alanus als ebenso gelehrt wie kommentierungsbedürftig. Eine Generation jünger als Alanus leistet Wilhelm von Auxerre erstmals eine vollständige Kommentierung auf Wort- und Zeilenebene 16 . Ein von ihm ausdrücklich gebrauchtes Zitat aus dem Metaphysik-Kommentar des Averroes zeugt von seiner guten Kenntnis des arabischen Philosophen 17 . Zitat und Kommentar werden auf die Zeit zwischen den Jahren 1225 und 1230 datiert.
(2.) Das umfangreichste und am meisten beachtete Werk Wilhelms von Auxerre ist seine zwischen 1215 und 1229 entstandene theologische Summe, der später aufgrund ihrer allgemeinen Hochschätzung der Titel Summa aurea zugesprochen wurde 18 . Sie ging offenbar aus der Lehrtätigkeit Wilhelms hervor: in vier Büchern werden aus unterschiedlichen Arbeitsphasen hervorgegangene Quaestiones disputatae zu einem Werk vereint. Die beiden ersten Bücher wurden von Wilhelm selbst überarbeitet, so daß sie in zwei Fassungen vorliegen, deren erste schon bald nach dem 4. Laterankonzil von 1215 vorlag und vor 1226 abgeschlossen worden sein dürfte, ebenso wie die Bücher III und IV. Die überarbeitete Fassung der Bücher I und II scheint dagegen zwischen 1226 und 1229 angefertigt worden zu sein. Der gewaltsame Tod im Pariser Untergrund am 2. Juni 1974 hinderte Jean Ribaillier daran, seine kritische Edition der Summa aurea zu vollenden. Unter der Regie von Marie-Thérèse d'Alverny und mit Hilfe einer Reihe von Wissenschaftlern konnte jedoch die Arbeit einem Abschluß zugeführt und sukzessive in den Jahren 1980-1987 eine historisch-kritische Ausgabe vorgelegt werden 19 . Der Editionstext orientiert sich überwiegend an einer Handschrift aus dem Jahre 1260, die den Text der späteren Fassung bietet – der Fassung, die im 13. Jahrhundert am weitesten verbreitet war und auf die spätere Theologen zumeist Bezug nehmen 20 .
(3.) Das dritte Werk, das sich Wilhelm von Auxerre eindeutig zuschreiben läßt 21 , ist die hier zur Behandlung stehende symbolisch-allegorische Liturgieerklärung Summa de officiis ecclesiasticis 22 , die in Abgrenzung zur Summa aurea gerne als Wilhelms "kleine liturgische Summe" bezeichnet wird. Der Text der Summa de officiis ecclesiasticis ist in 15 heute bekannten Handschriften überliefert, von denen zwei eine stark überarbeitete Textfassung bieten. Sie wurde bisher in keiner Form gedruckt oder kritisch ediert 23 .
Wilhelm von Auxerre hat die Summa de officiis ecclesiasticis nach 1198 und vermutlich vor 1215 im Rahmen seines Lehrauftrags an der Theologischen Fakultät der Universität zu Paris verfaßt. Inkonsistenzen zwischen Plan und Durchführung, wie sie auch bei der Summa aurea auszumachen sind, lassen sich vermutlich auf unterschiedliche Arbeitsphasen, etwa im Verlauf eines Vorlesungszyklus zurückführen 24 . Wie die Summa aurea so richtet sich auch die Summa de officiis ecclesiasticis in erster Linie an die Studenten der Theologie.
II. Die Summa de officiis ecclesiasticis ↑
1. Inhalt und Aufbau ↑
Abweichend vom ursprünglich geplanten Aufbau 25 , zu dem Wilhelm von Auxerre sich an verschiedenen Stellen äußert, läßt sich der Text der Summa de officiis ecclesiasticis in die folgenden Abschnitte untergliedern: Nach einem kurzen Prolog werden zunächst (1.) das Stundengebet und (2.) die Messe im allgemeinen erklärt. Dann werden (3.) beginnend mit dem Advent die liturgischen Besonderheiten der einzelnen Feiertage im gesamten Verlauf des kirchlichen Festkalenders und daran anschließend (4.) die wichtigsten Heiligenfeste sowie (5.) das Kirchweihfest kommentiert. In einem letzten unvollendeten Teil wird (6.) die Gewandung der alttestamentlichen Priesterschaft behandelt.
Wilhelms ursprünglicher Plan war umfassender. Im Prolog formuliert er ihn folgendermaßen: "In einem ersten Teil möchte ich zunächst von den Diensten im allgemeinen sprechen, dann im speziellen, welche Dienste an den einzelnen Sonntagen in welcher feierlichen Form abgehalten werden sollen. In einem zweiten Teil möchte ich von den Personen handeln, die den Gottesdienst zelebrieren, in einem dritten von dem Ort, also vom Kirchengebäude, und welche biblischen Bücher warum zu welchem Zeitpunkt gelesen werden" 26 . Während er den ersten Teil seines Vorhabens umsetzt, erschöpft sich der angekündigte zweite Teil zu den Amts- und Würdenträgern in einigen kurzen Beschreibungen einzelner Kleidungsstücke der alttestamentlichen Priesterschaft und deren Entsprechung in der christlich-abendländischen Liturgie 27 . Der dritte angekündigte Teil zum Kirchengebäude fehlt ganz. Das wiederholt angekündigte Vorhaben einer eigenen Abhandlung zur liturgischen Leseordnung wird im Verlauf der Ausführungen zum Festkalender aufgegeben zugunsten einer sukzessiven Erläuterung "suo loco", unter den jeweiligen Festtagen 28 .
Die hier präsentierte Edition soll nicht den Eindruck erwecken, als handele es sich um ein planmäßig vollendetes Werk, und gliedert den überlieferten Text entsprechend dem Plan seines Autors folgendermaßen:
Prologus
I. De officiis ecclesiasticis
1. De officiis in generali
1. De officio horarum
2. De officio misse
2. De officiis in speciali
1. De officiis dierum dominicarum
2. De officiis festorum sanctorum
3. De officio dedicationis
II. De ministris officiorum
1. De uestimentis ministrorum
1. De uestimentis pontificum ueteris testamenti
[ ... ]
[ III. De loco / De ecclesia materiali ]
2. Datierung ↑
Wann Wilhelm von Auxerre seine liturgische Summe verfaßt hat, läßt sich nicht exakt datieren 29 . Da er mehrfach explizit auf Papst Innozenz III. zu sprechen kommt, ist als ein Terminus post quem das Datum von dessen Papstwahl am 18. Januar 1198 zu benennen 30 .
Für eine genauere Datierung erweist sich der Blick auf regionale Besonderheiten der Pariser Liturgie als hilfreich, die in der Summa de officiis dokumentiert sind: In den Jahren 1198 und 1199 ließ Odo von Sully 31 , 1197 bis 1208 amtierender Bischof zu Paris, in seiner Diözese die Fête des fous (festum stultorum od. festum fatuorum), die in Paris traditionell am 1. Januar, dem weltlichen Jahresanfang gefeiert wurde, verbieten. Der profane und anstößige Charakter dieses Festes hatte immer schon den Widerwillen kirchlicher Autoritäten hervorgerufen 32 . Die vulgären Ausschweifungen hatten in Paris jedes Jahr auch Teile des Klerus erfaßt und selbst vor dem Altar der Kathedrale von Notre Dame nicht halt-gemacht. Das Verbot ging einher mit einer neuen liturgischen Ausgestaltung des Beschneidungsfestes, das ebenfalls am 1. Januar begangen wurde 33 . In einem weiteren bischöflichen Erlaß gestand Odo von Sully den Klerikern, die an der Matutin des Beschneidungsfestes teilnahmen, nicht nur geistigen Lohn, sondern auch eine Zahlung von drei Pariser Denaren für Nicht-Kanoniker und zwei Pariser Denaren für jeden Chorknaben zu. Der Betrag sollte dem jährlichen Einkommen des Domkapitels zugerechnet werden 34 . Auf diese Neuregelung nimmt Wilhelm offensichtlich Bezug, wenn er in der liturgischen Aufwertung des Beschneidungsfestes den entscheidenen Schritt für eine erfolgreiche Eindämmung der heidnischen Umtriebe erkennt. Denn das Narrenfest als Ganzes ließ sich offenbar nicht aus der Welt schaffen: "Dieses Fest wollte die Kirche abschaffen, weil es wider den Glauben ist. Doch weil es sich nicht ganz beseitigen ließ, ist es nun wieder erlaubt und wird mit größter Feierlichkeit begangen, damit anderes unterlassen wird. Und deswegen werden zur Matutin Lesungen abgehalten, die vor solchen Dingen warnen, die wider den Glauben sind. Und wenn nun an jenem Tag im Namen der Kirche einiges geschieht, das nichts mit dem Glauben zu tun hat, so geschieht doch nichts wider den Glauben. Und deshalb wurden Narreteien, die wider den Glauben waren, in Narreteien umgewandelt, die nicht wider den Glauben sind, indem man sie zuließ" 35 . Das Verbot des Pariser Bischofs wurde in der Zwischenzeit offiziell weder aufgehoben noch gelockert, dennoch lebten verschiedene Bräuche des Narrenfestes offensichtlich fort. Doch wertet Wilhelm das Scheitern des Verbots insofern als Erfolg, als durch die liturgische Ausgestaltung des Beschneidungsfestes die Ausschweifungen des Narrenfestes auf ein kirchlicherseits tolerierbares Maß zurechtgestutzt wurden.
Die Summa de officiis dokumentiert eine weitere liturgische Neuerung aus der Amtszeit des Odo von Sully als Bischof von Paris: Die um 1208 promulgierten Synodalbeschlüsse sahen die Elevation der Hostie unmittelbar nach den Worten der Konsekration "Hoc est corpus meum" vor, damit sie von allen gesehen werden konnte: "ita quod possit ab omnibus videri" 36 . Genau diesen rituellen Ablauf schildert Wilhelm von Auxerre, und er liefert dieselbe Begründung: "Quo facto sacerdos eleuat corpus christi, ut omnes fideles uideant et petant" 37 . Eine Entstehung seiner Summe nach 1208 ist somit wahrscheinlich.
Die Tatsache, daß der im Jahre 1216 verstorbene Papst Innozenz III. an den bereits genannten Textstellen mit einem präsentischen "dicit" zitiert wird, ist allein kein hinreichendes Indiz dafür, daß er zu der Zeit, als die Summe entstand, noch lebte 38 . Allerdings dürfte die Summa de officiis ecclesiasticis noch vor Abschluß der Summa aurea, also vermutlich vor 1223, und vor dem zwischen 1215 und 1220 entstandenen Sakramententraktat des Guido von Orchelles verfaßt worden sein, die beide nach dem IV. Laterankonzil von 1215 verfaßt wurden 39 . Das IV. Laterankonzil, das unter dem Einfluß der genannten Pariser Synodalbeschlüsse stand und wie dieses auch liturgische Neuerungen brachte, wird von Wilhelm in der Summa de officiis mit keinem Wort erwähnt, noch läßt sich bei inhaltlichen Überschneidungen ein impliziter Bezug nachweisen 40 . Es spricht also manches dafür, daß die Summa de officiis ecclesiasticis im weiteren Vorfeld des IV. Laterankonzils zwischen 1208 und 1215 entstanden ist.
3. Unterschiedliche Fassungen ↑
Die handschriftliche Überlieferung der Summa de officiis ecclesiasticis läßt sich nicht auf unterschiedliche Vorlesungsmitschriften, auf sog. reportationes zurückführen, wie dies bei der Summa aurea durchaus zu vermuten ist 41 . Einerseits erscheinen dafür die inhaltlichen und sprachlichen Abweichungen der Summa de officiis ecclesiasticis bei dem Großteil der Handschriften zu gering. Die beiden Fassungen der Handschriften aus Cambrai und Klosterneuburg 42 unterscheiden sich dagegen so sehr von der restlichen Überlieferung, daß davon auszugehen ist, daß es sich hier um bewußte, nachträgliche Überarbeitungen handelt.
(1.) Der Text, den die Handschrift aus Klosterneuburg bietet, ist das Ergebnis des Versuchs um eine Kurzfassung der Summa de officiis ecclesiasticis. Sie wurde vermutlich auf der Basis einer schriftlichen Vorlage begonnen und bald abgebrochen. Bis zu ihrem abrupten Ende nach den Ausführung zur Ostervigil 43 sind die Abbreviaturen der thematisch zusammengehörigen Textpartien in derselben Reihenfolge angeordnet wie die der Vorlage. Die Textfassung der Handschrift aus Klosterneuburg ist zur Zeit nur in Form von Faksimilia eingebunden 44 .
(2.) Die vermutlich noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in der Île de France entstandene Fassung der Handschrift aus Cambrai 45 hingegen ist das Produkt einer aufwendigen und unter inhaltlichen wie kunsthandwerklichen Aspekten äußerst bemerkenswerten Buchproduktion: Der relativ kleinformatige aber dickleibige Codex umfaßt eine große Fülle theologischer und exegetischer Texte zur heiligen Schrift und Liturgie verschiedensten Ausmaßes, darunter die Liturgieerklärungen des Isidor von Sevilla, Ps.-Hugo von Sankt-Viktor, Johannes Beleth und Rupert von Deutz. Bei vielen Texten handelt es sich um singulär überlieferte und auf hohem Niveau redaktionell überarbeitete Fassungen 46 . Bunte Zeichnungen, die das Vogelbuch des Hugo von Fouilloy illustrieren, bezeugen ebenfalls die hohe Kunstfertigkeit des ausführenden Skriptoriums 47 . Die Überarbeitung läßt sich zunächst dadurch charakterisieren, daß die ursprünglichere Fassung vollständig umformuliert und mit einer Vielzahl von Zusätzen versehen worden ist, die mehr oder weniger der Interpretation der Vorlage entsprechen, sie oftmals aber auch um weitere Sinnaspekte bereichert. Andere Erweiterungen oder auch Weglassungen lassen sich möglicherweise durch ein Abweichen im Ablauf des zugrundeliegenden Ritus erklären 48 . An den überarbeiteten Aussagen zum Aufbau und Inhalt der Schrift läßt sich schließlich das Bemühen ablesen, "aus einem unvollendeten Werk doch noch ein geschlossenes Ganzes zu machen" 49 : Die Aussagen zu Kirchweihe und Kirchweihfest werden dem Thema des in der Vorlage angekündigten, aber nicht durchgeführten dritten Teils zum Ort des Gottesdienstes, zum Kirchengebäude (ecclesia materialis), zugeordnet und in eine Ankündigung eines eigenständigen zweiten Teils umgewandelt 50 .
Die Textfassung der Handschrift aus Cambrai ist sowohl in Form von Faksimilia als auch in Form eines Lesetextes Bestandteil der digitalen Gesamtedition.
4. Quellen und Vorlagen ↑
Wilhelm teilt viele Bilder und Deutungsmuster mit seinen Vorgängern und Zeitgenossen, ohne daß sich dies in allen Einzelheiten und mit dem Anspruch der Vollständigkeit im Rahmen dieser Arbeit hätte nachweisen lassen können. "It is no easy task to determine all the sources used by a medieval liturgist owing to the repeated borrowings and mutual dependence of preceding writers", so beurteilt Vincent Lorne Kennedy die Sachlage im Vorwort zur kritischen Ausgabe der Summa de officiis ecclesiae des Guido von Orchelles (gest. 1225) 51 . Ausgiebig und für gewöhnlich ohne die Nennung von Vorlagen bedienen sich Liturgiekommentatoren bei ihren Vorgängern, und zumeist läßt sich nur sehr schwer nachweisen, ob es sich im Einzelfall um direkte oder vermittelte Abhängigkeiten handelt 52 . Eindeutige Zuweisungen auf etwaige Vorlagen werden dadurch noch erschwert, daß die in Frage stehenden Texte mittelalterlicher Liturgiekommentatoren bis heute unzureichend erschlossen sind, und wenn, dann nur zu einem geringen Teil in kritischen Editionen vorliegen.
Ein zentrales methodisches Anliegen der vorliegenden Edition 53 besteht darin, eine Grundlage für Forschung zu bieten, deren Erkenntniszuwachs praktisch jederzeit der Edition einverleibt werden kann. Es schien daher gerechtfertigt, in bezug auf allgemeine Quellennachweise einen ohnehin kaum realisierbaren Vollständigkeitsanspruch fallen zu lassen und mögliche Vorlagen der Summa de officiis ecclesiasticis zunächst nur exemplarisch zu belegen 54 . Vollständigkeit beim Nachweis von Quellenbelegen zu erreichen, sucht die vorliegende Edition dagegen in bezug auf alle expliziten Zitate und Verweise, die in der Summa zu finden sind. Dies gilt insbesondere für alle biblischen und alle liturgischen Texte sowie für Verweise auf die Kirchenväter Ambrosius, Hieronymus, Augustinus und Gregor den Großen 55 . Als weitere Autorität von hohem Rang fungiert Bernhard von Clairvaux, den Wilhelm allein viermal namentlich zitiert 56 .
Expliziten Bezug auf vorgängige Liturgieerklärer nimmt Wilhelm nur im Fall von Innozenz III. 57 Seine Meßerklärung kann als wichtigstes Referenzwerk für Wilhelms Deutung der Messe und der priesterlicher Gewandung bezeichnet werden, da sich eine Reihe weiterer, impliziter Bezugnahmen nachweisen lassen. Auch Innozenz greift an den entsprechenden Stellen nachweislich auf Deutungen früherer Liturgiekommentatoren zurück 58 , deren Rückverfolgung liturgiegeschichtlich im einzelnen sehr aufschlußreich sein kann, die Zielvorgaben dieser Edition allerdings überschreiten würde.
Außer den genannten Autoren findet in der Summa de officiis ecclesiasticis lediglich Raoul von Fly (gest. vor 1157) namentliche Erwähnung, dessen umfangreicher Kommentar zum Buch Levitikus seinerzeit maßgeblich gewesen, heute freilich in Vergessenheit geraten zu sein scheint 59 .
Grundsätzlich wurde, wo sich inhaltliche Überschneidungen auffinden ließen, auf Parallelstellen der in den Jahren 1160-1164 entstandenen Summa de officiis des Johannes Beleth verwiesen, die mit etwa 180 erhaltenen Handschriften eine sehr große Verbreitung erfuhr und bei zeitgenössichen Theologen in hohem Ansehen stand. Sie liegt zudem in einer Edition 60 vor, die mit einem ausführlichen Quellenapparat ausgestattet ist und somit für weiterführende Quellenstudien bezüglich der Summa Wilhelms von Auxerre einen geeigneten Ausgangspunkt bilden kann. Das Verhältnis der Summa de officiis ecclesiasticis zu den liturgieerklärenden Schriften seiner unmittelbaren Vorgänger Praepositin von Cremona 61 oder Sicard von Cremona 62 , die am Ende des 12. Jahrhunderts verfaßt wurden, ist dadurch charakterisiert, daß Wilhelm von Auxerre offensichtliche oder gar wortgetreue Übernahmen zu meiden sucht: "Praepositin Wort für Wort zu plündern wäre dem Esprit Wilhelms von Auxerre kaum angemessen", so die Einschätzung Martineaus in seiner grundlegenden Studie zur Summa Wilhelms 63 . Nicht selten scheinen es dagegen gerade die Leerstellen seiner Vorgänger zu sein, also noch unkommentierte liturgische Sachverhalte, die Wilhelm einer Deutung zuzuführen sucht.
5. Rezeption ↑
Mit fünfzehn erhaltenen Handschriften ist die Überlieferung der Summa de officiis ecclesiasticis verhältnismäßig dünn 64 . Ihre Verbreitung beschränkte sich zudem mit elf Handschriften 65 hauptsächlich auf französisches Gebiet, insbesondere auf die Île de France und den Norden. Die Forschung brachte ihr lange Zeit kaum Interesse entgegen, wenn sie überhaupt Notiz von ihr nahm. Daß sie als eigenständiges Werk aus dem Blick geriet, mag mit der Tatsache zusammenhängen, daß sie wortwörtlich und nahezu vollständig in dem in den Jahren 1286-91, also etwa acht Jahrzehnte später verfaßten Rationale des Wilhelm Durandus von Mende 66 (ca. 1230-1296) aufgegangen ist und darin "buchstäblich verschwand" 67 . Das Rationale ist die umfassendste aller mittelalterlichen Liturgieerklärungen und wurde zugleich als deren Höhepunkt und krönender Abschluß bezeichnet 68 . Das Ausmaß der Verbreitung dieses Werkes im 14. und 15. Jahrhundert übersteigt – abgesehen von dem der Bibel – das aller anderen Schriften. 1372 wird es im Auftrag Karls V. ins Französische 69 , um 1450 im Auftrag Herzog Albrechts des Frommen ins Spätmittelhochdeutsche 70 übersetzt. Allein zwischen 1459 und 1500 erfährt es 44 Inkunabeldrucke, im ganzen 111 Druckausgaben.
In Anbetracht dessen kann das mittelbare Nachwirken der Summa de officiis ecclesiasticis durch ihre Verbreitung im Textcorpus des Rationale keinesfalls als gering eingestuft werden, denn Wilhelm Durandus von Mende hat ihren Textbestand größtenteils wortwörtlich und oder in adaptierter bzw. überarbeiteter Form übernommen. Die Rezeption erfolgt dabei nur an vier Stellen mit der expliziten Nennung der Vorlage – und dort zumeist auch noch falsch: in drei von diesen vier Fällen nennt er den Autor der Vorlage aus unerklärlichen Gründen "Magister Petrus Autissiodorensis" 71 . Nur einmal zitiert er korrekt "secundum magistrum Gulielmum Autissiodorensem" 72 .
In aller Regel erfolgt die Rezeption stillschweigend und mitunter so buchstäblich, daß selbst Verbformen der 1. Person beibehalten werden: ein inquam (ich sage) bleibt ein inquam 73 und ein dicimus (ich behaupte) bleibt ein dicimus 74 . Bei absolut wortgetreuer Wiedergabe wird also ein "ich, Wilhelm von Auxerre" zu einem "ich, Wilhelm Durandus von Mende". Wird man dem Autor der Vorlage an diesen Stellen ohne weiteres Authentizität zugestehen wollen, darf man sie dem Ich des Rezipienten nicht ohne weiteres absprechen, und so wäre der Vorwurf des Plagiats hier sicherlich unangebracht. Denn mag Wilhelm Durandus hier als Autor auch nicht originell sein, so macht er sich doch die Aussagen der Vorlage zu eigen. Entsprechende Wendungen in der ersten Person sind zudem oft mit einer scholastischen Formelhaftigkeit gebräuchlich, ähnlich dem liturgischen credo (ich glaube).
So wortgetreu Wilhelm Durandus den Text der Summa de officiis ecclesiasticis in seinem Rationale übernehmen kann, weicht er an vielen anderen Stellen in Wortlaut, Aufbau und Inhalt bewußt von diesem ab und paßt ihn der eigenen Argumentation an. Sowohl die wortwörtliche als auch die adaptierende Rezeption sind in der hier vorgelegten Edition als solche ausgewiesen 75 .
Ein weiterer, nicht weniger prominenter Kompilator, der sich der Summa de officiis ecclesiasticis des Wilhelm von Auxerre bedient hat, ist Jacobus de Voragine (1230-1298). In der Legenda aurea, seinem zwischen 1261 und 1267 verfaßten literarischen Hauptwerk, das sich in kürzester Zeit zum populärsten und am weitesten verbreiteten religiösen Volksbuch des ausgehenden Mittelalters entwickelte, zitiert er Wilhelm allein an fünf Stellen namentlich 76 . Weitere stillschweigende Entlehnungen sind zu vermuten. Beide Kompilatoren, sowohl Jacobus de Voragine als auch Wilhelm Durandus von Mende, übernehmen beispielsweise die dreistufige Martyrien-Rangfolge, die Wilhelm von Auxerre im Zusammenhang der unmittelbar auf das Weihnachtsfest folgenden drei Heiligenfeste ausführt 77 und dergemäß ein Martyrium entweder (1.) willentlich und tatsächlich – wie im Falle des gesteinigten Diakons und Protomärtyrers Stefan –, (2.) willentlich, aber nicht tatsächlich – wie im Falle des Evangelisten Johannes, der unversehrt einem Trog von siedendem Öl entstieg – oder aber (3.) unwillentlich aber tatsächlich begangen werden kann – wie im Falle der auf Veranlassung des Herodes ermordeten unschuldigen Kinder. Während Wilhelm Durandus von Mende die Passage in vollem Umfang und wortwörtlich übernimmt 78 , gibt Jacobus sie am Ende der Stefansvita auf das Wesentliche verkürzt wieder: "Secunda ratio est ut sic ecclesia omnium martyrum genera secundum gradum dignitatis in simul adundaret, quorum quidem martyrii Christi natiuitas causa fuit. est enim triplex martyrium, unum uoluntate et opere, secundum uoluntate sed non opere, tertium opere sed non uoluntate; primum fuit in beato Stephano, secundum in beato Iohanne, tertium in Innocentibus" 79 . Eine Studie, in welchem Umfang Jacobus die Summa de officiis ecclesiasticis darüberhinaus als Vorlage für die Legenda aurea verwendet hat, steht noch aus.
Fußnoten
Im Kapitel zum Quatemberfasten: "Octaua (sc. ratio) est magistri Gullielmi Altissiodorensis. Ideo enim quatuor anni temporibus ieiunamus ...". Legenda aurea, cap. 36, 36-38 (ed. Maggioni I, 232); siehe Summa de officiis ecclesiasticis III,6. – Im Kapitel von der großen und der kleinen Litanei: "Duas alias rationes assignat magister Guillelmus Altissiodorensis. Prima ...". Legenda aurea 66,38-41 (ed. Maggioni I, 475); siehe Summa de officiis ecclesiasticis III,84,3-5. – In der Vita Johannes' des Täufers: "Celebratur autem eius ortus siue natiuitas secundum magistrum Guillelmum Autissiodorensem triplici ratione. Primo ...". Legenda aurea, cap. 81, 121-125 (ed. Maggioni I, 547); siehe Summa de officiis ecclesiasticis IV,11,2. – In der Vita des heiligen Laurentius: "... Has tres rationes ponit magister Guillelmus Autissiodorensis". Legenda aurea, cap. 113, 208-212 (ed. Maggioni II, 766); siehe Summa de officiis ecclesiasticis IV,14,1. – Allerheiligen: "Quare autem institutum sit ut festiuitates sanctorum in terris agamus, magister Guillelmus Altissiodorensis in summa de officio ponit sex rationes. Prima ...". Legenda aurea, cap. 158, 25-43 (ed. Maggioni II, 1101f); siehe Summa de officiis ecclesiasticis IV,1,1-8.
In Ermangelung einer Edition der Summa de officiis ecclesiasticis verweist Maggioni im Quellen-Apparat seiner kritischen Ausgabe auf Ms. Paris B.N. lat. 15168 (P2) (Legenda aurea, ed. Maggioni I, 547 u. II, 1101), auf Wilhelms Summa aurea (Legenda aurea, ed. Maggioni I, 232 u. 475), oder trotz der expliziten Nennung Wilhelms auf Johannes Beleth (ed. Maggioni II, 766).